Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Anfang des ersten Kapitels meines Romans "Der
Nano-Krieg":
Kapitel 1: Investigate
Datenverlust
Montag, 17. August 2020, 09:00 Uhr am Morgen. “Das ist der Super-Gau!“ Roger Campari fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und massierte sich die Schläfen, “Das ist
der absolute Super-Gau.“ Seine Finger wühlten fieberhaft an seinen Schläfen. Er stöhnte auf. “Komm runter”, mahnte er sich selber und drückte die massierenden Finger so fest gegen die Schläfen, dass
es richtig schmerzhaft war. Roger Campari war sauer, stinksauer sogar. Wütend und gleichzeitig extrem verunsichert, es war ein extremes Wechselbad. Er starrte noch einmal völlig fassungslos auf den
leeren Bildschirm. Wie konnte so etwas passieren? Die Forschungsarbeit mindestens eines halben Jahres, wenn nicht gar eines ganzen Jahres, war dahin, soviel war schon mal nach dem ersten Sichten des
Schadens sicher. Alle seine Daten waren gelöscht. Alle! Es war ihm unerklärlich, wie das geschehen konnte. Roger Campari leitete die Abteilung Grundlagenforschung bei Salomon Nanotechnologics in
Köln. Hier liefen alle Fäden der verzweigten Forschungsabteilungen des international verflochtenen Konzerns zusammen. Die Grundlagenforschung bei Salomon Nanotechnologics in Köln war deshalb
Hochsicherheit pur. Und Roger Campari leitete die Abteilung. Ein äußerst verantwortungsvoller Job, den er da ausübte. Er stöhnte noch einmal und massierte sich weiter den Kopf. Was für ein
Horroreinstieg! Denn eigentlich müsste es ihm gerade richtig gut gehen. Drei volle Wochen konnte er entspannen an den ruhigen Stränden der Adria. Sommerurlaub. Jeden Tag hatte er genossen. Und jetzt
dieses Desaster heute am Montagmorgen. Sein erster Arbeitstag nach dem Sommerurlaub! Er war wie normalerweise jeden Morgen unter der Woche um halb Neun Uhr Morgens auf dem Parkplatz vor dem
Hauptgebäude von Salomon Nanotechnologics, ein rundes modernes Oval mit viel Glas am Rheinufer, nachts prächtig in blau illuminiert, gefahren. Das runde Oval sollte an die Nanoröhrchen erinnern, eine
der interessantesten Bereiche der innovativen neuen Miniaturtechnologie. Nanoröhrchen galten wegen ihrer optischen, physikalischen und mechanischen Eigenschaften als Shootingstar in der Nanobranche.
Deshalb das runde Oval des Gebäudes als architektonisches Symbol für den Aufbruch in eine neue Zeit, in die Nano-Epoche. Über dem runden Oval leuchtete im satten Dunkelblau das Logo von Salomon
Nanotechnologics. Eine riesige, langsam rotierende Kugel, die aus unzähligen winzigen Kugeln zusammengesetzt war. Die vielen kleinen Kugeln symbolisierten die einzelnen Nanobausteine, aus denen etwas
Neues, ein völlig neues Produkt geschaffen werden konnte. Ein Produkt mit völlig neuartigen Eigenschaften. Roger Campari kannte all diesen symbolisch aufgeladenen Mist, den er zutiefst verabscheute.
Für ihn war die Nanotechnologie ganz einfach eine Bereicherung der technischen Möglichkeiten, die für viele Annehmlichkeiten im täglichen Leben gesorgt hatten. Denn die Winzlinge waren wahre
technische Tausendsassas. Winzig waren die Nanopartikel in der Tat. Das sagte schon der Name. Nano. Nano heißt auf altgriechisch Zwerg. Und Nanopartikel waren Zwerge. Sie waren jeweils nur etwa
einhundert Nanometer groß, also eine Millionstel Millimeter winzig. Doch was die alles konnten, das war wirklich beeindruckend: Fenster musste man nicht mehr putzen, wenn man einmal in die neuen
Partikel investiert hatte, die den Schmutz sofort abwiesen. Dachziegel blieben sauber, Sonnencreme wurde effektiver, ging förmlich tiefer unter die Haut, Pullover absorbierten den Schweiß, Laufschuhe
ließen Läufer schneller laufen, Medikamente gelangten zielgenau an den Herd der Erkrankung. Eine Erfolgsstory! Auch dank der Innovationen von Salomon Nanotechnoligcs. Und jetzt das.
Er hatte seinen elektronischen Ausweis unter die Kontrolleinheit gehalten, den Irisscan und die Stimmenidentifikation hinter sich gebracht, stellte sein Elektroboliden
von BMW auf dem riesigen Firmenparkplatz ab und war dann in das ovale Gebäude gegangen. Kaum hatte er mit seinem elektronischen Ausweis die Sicherheitstür zum Labor für die Grundlagenforschung
geöffnet, spürte er, dass irgendetwas nicht stimmte. Es lag förmlich in der Luft. Man konnte es riechen! Benennen konnte er es allerdings noch nicht. Aber es war da! Seine Nackenhaare stellten sich
auf. Etwas stimmte nicht! Und dann schlug ihm die Wahrheit brutal entgegen, genau in dem Moment, als der Zentralserver Forschung endlich den enervierenden langsamen Bootprozess beendete. “Achtung
Datenverlust!”, blinkte in grellroten Lettern mitten auf dem Bildschirm. “Verflucht!“ Hektisch machte sich Roger Campari an die Fehlersuche und durchforstete die Dateien im Zentralserver Forschung.
Schnell wurde ihm dabei klar, dass sämtliche Daten zum wichtigsten Forschungsprojekt des Unternehmens, “Inhalationsbeständigkeit von Nanopartikeln” genannt, in der Zeit seines Urlaubs einfach
verschwunden waren. Geklaut, gestohlen! Er blickte sich um, aber da war niemand. Natürlich nicht. Jemand war während seines Urlaubs bei Salomon Nanotechnologics eingedrungen und hatte die wichtigste
Forschungsarbeit des Jahres 2020 gelöscht, und was noch viel schlimmer war, möglicherweise auch die Forschungsergebnisse entwendet. Roger Campari wurde schlagartig aschfahl, als ihm die Konsequenz
klar vor Augen stand. Das war der Super-Gau! Christian Salomon würde toben vor Wut, soviel war sicher! Mit einem flauen Gefühl im Magen griff er das Telephon und wählte die Nummer von Christian
Salomon, dem Gründer und Chef von Salomon Nanotechnologics.
Tiger
Donnerstag, 27. August 2020, 16:00 Uhr am Nachmittag. Geistesabwesend streichelte Florian Roth mit seiner linken Hand das goldgelb gestreifte Fell seiner Katze. Tiger
schnurrte wohlig. Der neun Jahre alte Kater lag zusammengerollt auf seinem Schoß und ließ sich ausgiebig und mit Wonne streicheln. Mit der freien rechten Hand tippte Florian Roth auf der Tastatur
seines Laptops herum. “Nanoröhrchen” murmelte er halblaut vor sich hin. Tiger sah träge zu ihm auf und blinzelte. “Du bist nicht gemeint, Tiger”, sagte er und kraulte den Kater hinter den Ohren. Der
buckelte, schüttelte wie wild den Kopf hin und her, sprang dann mit einem gekonnten Satz vom Schoß auf das Echtholzparkett und flitzte mit schnellen Schritten die Treppe hinunter. Florian Roth sah
ihm nachdenklich hinterher und musste grinsen. Tiger! Spontan kam ihm wieder in den Sinn, wie Tiger zu ihm gefunden hatte, damals im Sommer vor neun Jahren. Er war gerade umgezogen in dieses seltsame
schöne kleine Haus, welches er bis heute bewohnte. Es wirkte inmitten der Häuserschluchten der Metropole Köln beinahe wie ein Fremdkörper. Ein kleines Einfamilienhaus inmitten zwischen
viergeschossigen Mehrfamilienhäusern. Das seltsame schöne kleine Haus bot im Erdgeschoss eine Küche und ein Wohn- und ein Schlafzimmer. Die Etage darüber bestand nur aus einem großen Raum, der
schräge Wände bis zum Boden bot. Ein schwierig zu möblierendes Haus, zugegeben, aber er hatte sich damals vor neun Jahren sofort in dieses ungewöhnliche Haus verliebt. Das Treppenhaus war so derart
gekonnt auf alt getrimmt, mit rotem Ochsenblut auf den Holzstufen, gedrechselten Streben unter dem Handlauf und natürlich auch rotem Ochsenblut auf dem Handlauf. Dazu war es und das war ihm enorm
wichtig, vollunterkellert. Aus diesem Keller führte eine Türe nach hinten hinaus auf eine sehr winzige Terrasse, die bereits nach vier Metern an einer tristen Betonmauer endete. Das kleine seltsame
Haus war ganz offenbar in eine Baulücke gepresst worden, wohl auch unter Missachtung von Baugenehmigung und Gesamtästhetik. Die Häuser links und rechts boten zwei Stockwerke mehr auf, Traufhöhe dort
war locker neun Meter. Gerade dieser Gegensatz war es, den Florian Roth sofort liebte, als er das leerstehende Haus besichtigte. Für ihn war dieses Haus sofort wie ein alter Freund oder wie ein guter
Kumpel. Und so kam Tiger dann auch zu ihm. Wie ein guter Kumpel. Er hatte seine wenigen Möbel noch nicht alle in den Räumen sortiert, da tigerte dieser vollkommen junge Kater hinten auf der kleinen
Terrasse herum und beschnüffelte alles. Den Topf mit einer Tomatenpflanze, den Thymianstrauch und vor allem die kleine Holzbank, die er sich dort mit Kissen ausgestattet, aufgestellt hatte. Er saß
dort gerade ein Buch lesend und den schönen Sommertag genießend, als plötzlich dieser goldgelb-gestreifte Kater mit einem Satz neben ihm auf der Bank saß und ihn aus seinen grünen jungen Katzenaugen
anblinzelte. Fast automatisch streichelte er lesend das Tier über den Kopf. Und so begann ihre Freundschaft. Jedes mal, wenn er sich auf seiner winzigen Terrasse aufhielt, suchte der Kater sofort
seine Nähe. Längst hatte er sich angewöhnt, dem Tier einen Napf mit Futter auf die Terrasse zu stellen und einen zweiten Napf mit Wasser daneben. Und so stand für ihn im späten Herbst des Jahres
2011, als die Blätter zu Boden fielen und es des Nachts Frost gab, außer Frage, dass er dem anhänglichen Tier, mittlerweile auf den Namen Tiger getauft, einen behaglichen Platz in seinem seltsamen
Haus schenkte, Katzenklappe in der Kellertüre inklusive. Katzen brauchen ihre Freiheit.
Florian Roth tauchte aus seinen Erinnerungen auf in die Jetztzeit und widmete seine Aufmerksamkeit wieder seinem Laptop. Er recherchierte im Internet Material über
Christian Salomon, dem König der Nanotechnologie. Christian Salomon war es vor zehn Jahren gelungen, endgültig den Durchbruch mit diesen neuen Materialien zu schaffen. Seine Firma Salomon
Nanotechnologics breitete sich mit immer neuen, innovativen Materialien und Anwendungen krakenhaft aus. Immer wieder war der Vergleich zu Bill Gates von Microsoft zu hören, dem es gelungen war, mit
seinen Windows-Betriebssystemen die komplette Computerwelt zu beherrschen. Und dieser Vergleich war auch kein Wunder, er drängte sich sogar förmlich auf. Denn heute, im Jahre 2020 gab es praktisch
kein Produkt mehr, in dem nicht irgendwo ein kleines bisschen Nanotechnologie aus dem Hause Salomon Nanotechnologics steckte. Florian Roth nippte an seinen großen Rotweinschwenker und ließ den edlen
Tropfen genüsslich durch die Kehle rinnen. Für ihn war ein guter Rotwein das Blut Gottes, wie er immer sagte, wenn ihn auf einer Party jemand auf seinen Rotwein-Tick ansprach. “Ich labe mich am Blut
Gottes”, pflegte er dann lächelnd zu antworten, “diesem zauberhaften Jungbrunnen, der ewige und innere Schönheit verheißt.” Die meisten Gesprächspartner winkten dann entnervt ab und verschwanden,
andere verwickelten ihn in ein philosophisches Gespräch über mystische Thesen. Florian Roth hasste solches Partygeschwätz, er hielt es für sinnlose Zeitverschwendung. Deshalb folgte er auch selten
Einladungen zum Brunch oder zu Cocktailparties. Er bekam ziemlich häufig solche Einladungen, da er als Chefreporter des Internet-Senders Investigate gleichzeitig bekannt, beliebt und vor allem
gefürchtet war. Deshalb traute sich kurioserweise kaum jemand der Schickeria, ihn nicht einzuladen, aus lauter Angst vor Racheberichten auf Investigate. Vielen aus der Schickeria steckte auch noch
der mediale Coup vom Bundestagswahlkampf im Herbst 2017 in den Knochen, als Florian Roth die siegesgewisse Kanzlerkandidatin der Vereinigten Linken, Andrea Nahles, zu Fall brachte, indem er
aufdeckte, dass sie ihr Hintergrundwissen bei der politisch gewollten Fusion von Opel und VW zu illegalen privaten Aktiengeschäften genutzt hatte. Mit Florian Roth war nicht zu spaßen, so die
allgemeine Stimmung in der Szene der Reichen und Berühmten, besser du lädst ihn ein, dann verschont er dich, so die Hoffnung. Und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Einmal, vor zwei Jahren, da warf er eine dieser Einladungen zu einem Brunch nicht sofort weg, sondern entschloss sich zu seiner eigenen Verwunderung spontan, dort auch
wirklich hin zu gehen. Gloria Banzhaff hatte geladen, aufstrebende Produzentin von ökokorrekten Übergrößen für die molligen Damen. Und dort, bei diesem Brunch auf einer unverschämt protzigen,
gigantischen Dachterrasse hoch über der Kölner Innenstadt im schönen Sommer 2018, lernte er Christian Salomon kennen. “Herr Roth, ich muss Sie unbedingt mit Christian bekannt machen. Kommen Sie bitte
mit.“ Gloria Banzhaff packte ihn einfach an die Hand und zog ihn weg von seinem Plauderpartner, einen Kölner Kommunalpolitiker der Piratenpartei, der ihn mit einem Monolog über die Wichtigkeit der
Informationsfreiheit im Internet langweilte. Deshalb war er darüber nicht böse, denn der Mann erschien ihm wie so viele Menschen auf solchen Parties der Schickeria, einfach nur vollkommen
uninteressant. Bereitwillig trabte er daher hinter der Gastgeberin her. Galant stellte sie ihm Christian Salomon vor. “Christian, das ist Florian Roth vom Internetsender Investigate. Den musst du
einfach kennen lernen. Viel Spaß euch beiden.” Mit diesen Worten schwebte sie von dannen und begab sich wieder ins Partygewühl. Sie waren sich auf Anhieb sympathisch, der König der Nanotechnologie
und der König von Investigate. “Sie sind also der rote Roth, der die Nahles zu Fall brachte?”, fragte Salomon und reichte ihm lächelnd die Hand. “Ja leibhaftig, und Sie sind also die Reinkarnation
von Bill Gates”, gab Florian Roth lächelnd zurück. Salomon nickt und grinste. “Wieso Reinkarnation? Bill Gates ist meines Wissens doch noch gar nicht gestorben.” Florian Roth musste lachen. “Guter
Konter”, gab er zu. Sie stießen mit ihren Gläsern an, der große Rotweinschwenker Florian Roths klirrte gegen die elegante Sektflöte Christian Salomons. “Woher kennen Sie Gloria Banzhaff, unsere
reizende Gastgeberin dieses wunderbaren Abends?”, erkundigte sich Christian Salomon. “Ich kenne Sie nicht wirklich. Nur die üblichen Geschichten aus den Medien. Aber sie kennt und fürchtet mich
wirklich. Sie hat mich sozusagen profilaktisch eingeladen, als Zuckerbrot. Sie möchte verhindern, dass ich Enthüllendes über ihr Übergrössen-Modelabel ausgrabe.” Christian Salomon sah ihn fragend an.
“Gibt es denn da etwas auszugraben?“ Florian Roth lächelte hintergründig. “Oh ja, jede Menge sogar, ich glaube, jemand hat ihr gesteckt, dass ich sehr an ihrem Label interessiert bin und derzeit
ziemlich hart recherchiere. Sie hat”, er senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Raunen, “sie hat Probleme mit der Bio-Baumwolle aus der Türkei. Pestizide!” “Oh, das wäre schade für Gloria!“
Christian Salomon nippte an seinem Sektglas, “und das wäre auch schade für mich.” Florian Roth blickte sein Gegenüber interessiert an. “Woher kennen Sie Gloria Banzhaff?” Christian Salomon lächelte
versonnen und deutete auf eine korpulente blonde Frau, die sich gerade über das üppige Buffet hermachte. “Dicke schwitzen wie die Schweine. Kennen Sie den Song vom ollen Westernhagen aus den
Siebzigern des letzten Jahrhunderts? Und Glorias Kundinnen sind dick. Viel zu dick. Zum Teil sogar extrem dick!” Christian Salomon sprach die beiden letzten Worte äußerst gedehnt aus. Er zwinkerte
Florian Roth zu und hob sein Sektglas. “Und mit meiner Nano-Ausrüstung für die Fasern ist das Problem für die Dicken im Nu erledigt. Dann können sie schwitzen, die Dicken, sogar schwitzen wie die
Schweine, es kriegt aber keiner mehr mit. Denn die Dicken stinken nicht mehr nach Schweiß. Das wird alles absorbiert von meiner Schicht aus Nanosilber.” Florian Roth nickte wissend und grinste. “Eine
echte Win-Win-Situation für alle Beteiligten”, kommentiere er trocken und reichte Christian Salomon seinen Rotweinschwenker zum Anstoßen. “So ist es”, antwortete dieser lachend und die Gläser stießen
erneut klingend zusammen. Beide tranken schweigend einen Schluck. Christian Salomon blickte versonnen lächelnd in die illustre Partyrunde aus schwatzhafter Wichtigkeit. “Und deshalb hat sie mich
heute zu diesem Event hier eingeladen. Aus Dankbarkeit. Aus reiner Dankbarkeit.”
Ein Maunzen holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Tiger war die Treppe wieder hinauf geschlichen und saß jetzt vor ihm und blickte ihn mit seinen grünen Augen bettelnd
an und maunzte herzerweichend. Florian Roth sah auf die Uhr, die auf seinem Schreibtisch stand. Halb fünf. Tiger war hungrig. “Hast Recht, Tiger, es ist Essenszeit für dich. Komm mit!“ Er stand auf
und ging zur Treppe. Tiger tappte freudig hinterher und strich seinem Herrchen so wild um die Beine herum, dass dieser aufpassen musste, nicht über das aufgeregte Tier zu stolpern. Aber so einen
schnellen Erfolg in Fütterungsbelangen konnte der Kater eher selten verbuchen, daher seine Aufregung. Unten in der Küche angekommen, öffnete er eine Dose mit Katzenfutter und füllte den Fressnapf des
Katers. “So, Tiger, heute ist Hühnchen dran. Das magst du doch besonders gerne.“ Sofort machte sich Tiger über den Napf her. Florian Roth füllte auch den Wassernapf auf, streichelte seinen Kater noch
einmal liebevoll über den Kopf und begab sich dann wieder nach oben, um weiter im Internet Informationen zu Christian Salomon, seinen Freund Christian Salomon, zu recherchieren, der ihm in den
letzten Wochen so seltsam entrückt erschien. Irgendetwas war in diesen letzten Wochen geschehen, und Florian Roth war gerade dabei, herauszufinden, worum es sich dabei handeln konnte. Das Telephon
schrillte. Er drehte auf dem Absatz um und eilte die Treppen hinunter in das Wohnzimmer zur Kommunikationsstation und drückte die Annahmetaste. Der Bildschirm erhellte sich. “Hallo Liebster!”
Viviane, seine aktuelle Beziehung, blickte ihn aus ihren strahlenden Augen entgegen. “Na Engel, alles gut?”, fragte er gut gelaunt. Er freute sich sehr über ihren Anruf. Sofort spürte er wieder
dieses Kribbeln im Bauch und das Ziehen in den Eingeweiden. Er war total verknallt in Viviane, diesen Wirbelwind von Weib, ein mit üppigen Kurven versehener Engel, der unversehens plötzlich
aufgetaucht war und sein Leben vollkommen umgekrempelt hatte. Viviane! “Ich habe fertig”, sagte Viviane lachend in den Kommunikator, “und könnte dich jetzt mit meinem Charme bezirzen.” Er strahlte.
“Soll ich uns was kochen?”, fragte er, weil er genau wusste, wie sehr Viviane den kulinarischen Köstlichkeiten verfallen war. Ihre Augen leuchteten. “Mach Pasta!”, rief sie vergnügt, “mach ne richtig
geile Pasta! Bis gleich, Liebster!“ Der Kommunikator glänzte mattschwarz, das brünette Frauenwunder war wieder verschwunden. Florian Roth nickte. Pasta, Gute Idee! Vor seinem geistigen Auge rieb er
schon den originalen italienischen Parmesanenkäse, den er immer, wirklich immer, im Haus hatte.
Versonnen ging er in die Küche und suchte mechanisch nach dem Pastatopf. Endlich fand er ihn ganz hinten im unteren Schrank und füllte ihn mit Wasser, gab Salz hinein
und stellte den schweren Topf dann auf den Starkbrenner seines Gasherdes. Seine Gedanken schweiften ab zu jenem Tag vor vier Monaten, als Viviane, der Wirbelwind, sein Leben so gründlich
durcheinander wirbelte. Er hockte in den Redaktionsräumen von Investigate und brütete über eine Story, von der er hoffte, dass die Staubwirbel bis nach Amerika zu sehen und zu spüren sein würden,
wenn er sie veröffentlichte: Der Chef der europäischen Raumfahrtbehörde ESA hatte, so schien es jedenfalls, gleich massenweise wissenschaftliche Expertisen gefälscht, um mehr Platz auf der ISS 2 zu
bekommen. Wenn das stimmte und er das veröffentlichte, wäre die Zusammenarbeit beim ISS 2 Projekt zwischen Europa und Amerika wohl für immer Geschichte. In seinen Gedanken schwang die Bürotüre noch
einmal auf und Viviane stand raumgreifend im Rahmen. “Sind Sie Florian Roth?”, fragte sie mit ihrer völlig verraucht klingenden, ach so erotischen Stimme und sah ihn dabei mit einem kecken
Augenaufschlag an. “Ja”, antwortete er schwach und versuchte aufzustehen. Sie stürmte in den Raum und reichte ihm ihre Hand. “Pass, Viviane Pass, ich bin Ihre neue Hilfskraft. Randolf Grosskopf hat
mich zu Ihrer Unterstützung eingestellt.” Florian Roth nickte stumm. Randolf Grosskopf war der Chef von Investigate, ein Guru, ein Weiser, der frühzeitig die unglaubliche Macht des Internets erkannt
hatte und Investigate gründete, als alle anderen noch brav bei Ebay einkauften und sich für moderne Netzbürger hielten. Florian Roth erinnerte sich. Randolf hatte ihm gegenüber vor einigen Wochen
beiläufig erwähnt, dass er Verstärkung für ihn anstellen wollte. Er stand endgültig auf und ergriff ihre dargebotene Hand. “Florian Roth, sehr angenehm, Frau Pass:” “Viviane!” “In Ordnung, Viviane,
ich bin der Florian.” Mit einer linkischen Handbewegung deutete er auf einen freien Stuhl im Raum. “Ist das mein Arbeitsplatz?” Florian Roth nickte. Leicht verunsichert blickte er sie an und setzte
sich ungelenk wieder hin. “Sie dagegen warf ihre Jacke über den freien Stuhl und setzte sich darauf. Aber wie! Schon in diesem Moment war es um Florian geschehen, die laszive Art, mit der sie ihre
Kurven in den Sitz gleiten ließ, machte ihm schlagartig klar, dass er seine Traumfrau vor sich sah. Er seufzte hingerissen.
Als schön im klassischen Sinne konnte man Viviane Pass nicht einmal bezeichnen. Dazu war sie einfach zu dick. Sie war sogar richtig prall. Aber auf eine Art prall, dass
Männern wie Florian Roth die Hormone um die Ohren flogen und sie die Kontrolle über ihre Sinne verloren. Auf eine andere Art, eben nicht im klassischen Sinne der Herrschaft der dünnen Models über das
Schönheitsideal, war Viviane Pass sogar sehr schön. Ihre Haut schimmerte ganz leicht negroid, was ihr ein extrem gesundes Aussehen schenkte. Sie schien vor Kraft und Gesundheit förmlich zu bersten.
Das war der Verdienst ihrer genetischen Herkunft. Ihr nigerianischer Vater hatte sich genetisch gegen die Mutter aus Augsburg nicht wirklich durchsetzen können, konnte aber durchaus sehr
wirkungsvolle Akzente in ihr Antlitz hinein schmuggeln. Sie wirkte deshalb sehr südländisch, aber eben noch nicht fremdländisch. Ihre brünetten Haare umschmeichelten ihr wirklich hübsches Gesicht und
unterstrichen dieses sehr angenehm Südländische in ihrem Antlitz. Sie hatte dazu noch sehr offene, große braune Augen, mit denen sie jetzt in diesem Moment unverwandt Florian Roth
musterte.
Florian Roth, 36 Jahre alt, Netz-Reporter bei Investigate, rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Die Luft knisterte, so etwas hatte er noch nie erlebt. Florian
Roth war gutaussehend, aber keine Schönheit. Er hatte sich irgendwann mit Mitte Zwanzig dazu entschieden, seine blonden Haare struppig hoch stehen zu lassen, alle bisherigen Versuche, diese zu
bändigen, waren im optischen Chaos geendet. Er brachte 80 Kilogramm auf die Waage, was bei einer Körpergröße von Einsfünfundachtzig definitiv nicht zuviel war. Seine Gestalt wirkte schlaksig, gerade
auch deshalb, weil er einen legeren Kleidungsstil bevorzugte. Schwarze T-Shirts zu abgetragenen Jeans und Sandalen. Dieser Look führte in Kombination mit den struppigen Haaren dazu, dass Florian Roth
leicht verwahrlost wirkte. Sein Kopf wirkte angesichts seiner Körpergröße ein wenig zu klein. Seine eng zusammenliegenden blauen Augen verstärkten diesen Effekt sogar noch etwas. Florian Roth wirkte
alles in allem sehr unscheinbar. Die wenigsten ahnten, dass es für ihn sehr wichtig war, genau diese Wirkung zu erzielen. Denn nichts ist für einen investigativen Journalisten schlimmer, als die
Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Nein, Florian Roth war zufrieden mit seinem Aussehen. Sein Problem war nicht seine Erscheinung, sein Problem war eine erbsengroße Warze auf der rechten Backe. Und
die nervte ihn vor allem deshalb, weil sie immer dann juckte, wenn er aufgeregt war. So wie jetzt in diesem Moment. Bisher war es noch keinem Halbgott in Weiß gelungen, ihn von dieser nervenden Warze
zu befreien. Er starrte Viviane Pass wie gelähmt an. Dann endlich löste sich seine Starre, er kratzte sich an seiner Warze und stieß heiser hervor: “Willkommen bei Investigate, Viviane.” “Willkommen
bei mir, Florian!” Sie strahlte ihn aus ihren schönen großen braunen Augen an und da war es endgültig geschehen um Florian Roth, 36 Jahre alt, Netzreporter bei Investigate.